Eins

„Erschrocken
fahre ich aus der Haut. Was ist das? Plötzlich bin ich hellwach, reiße meine Augen
auf, mein Herz rast, mein Atem wird schneller, habe Angst zu ersticken. Ich
fahre mir mit meiner linken Hand über die Gänsehaut auf meinem rechten Arm. Die
kalte, schweißige Hand ist mir sehr unangenehm auf meiner Haut. Es ist dunkel, ich
versuche mich zurecht zu finden im Zimmer. Das Erste, was ich erblicke ist eine
schwarze Wand neben meinem Bett. Eigentlich ist sie rot. Vorsichtig taste ich
mich vorwärts. Zwischen mir und der Wand liegt etwas. Es fühlt sich weich an.
Das muss mein Kissen sein. Ängstlich umschlinge ich das Kissen und presse es
gegen meine Brust. Es soll mich beschützen. Vorsichtshalber ziehe ich meine
kalten Beine ganz nah an meinen Körper. Auch meine wohlig warme Decke ziehe ich
mir noch ganz schnell über den Kopf. Sie liegt nun schützend über mich. Das
passiert so hastig, dass dabei meine Füße aufgedeckt werden. Mit einem Bein-Decken-Heber
befördere ich das untere Ende der Decke wieder über meine kalten Füße. Ich
mache mich ganz klein, wie ein Embryo im geschützten Mutterleib. 
Es
gibt Kobolde unter dem Bett! Unheimlich! Kleine, dreckige und stinkende
Kreaturen mit großen, spitzen Ohren, woraus lange schwarze Haare wachsen. Lange
Nasen haben sie. Und schiefe, faulige Zähne auch. Der Gestank aus deren Maul,
ein widerlicher Mundgeruch, mag kaum den noch ekelhafteren Körpergeruch dieser
Kreaturen überdecken. Sie stinken nach verwestem Fleisch. Ihre Augen sind so
groß, dass man erstarrt wenn sie dich anglotzen. Im Gesicht haben sie riesige
Warzen, aus diesen wachsen bräunlich, weiße Haare. Ihre Arme und Beine sind mit
gekräuseltem Haar bedeckt. Die Haare sind wie ein Filzknäuel ineinander zerzaust.
Die Kobolde tragen dunkelblaue Latzhosen, blutbeschmiert und von Motten zerfressen.
Unter ihren langen, gebogenen Fingernägeln krabbeln Maden, die sich bei Licht
in die verwundeten Fingerkuppen unter den Nagel zurückziehen. 
Sie
würden nach meinen Füßen schnappen wenn ich meine derzeitige Embryonalstellung
aufgebe. Ihre dreckigen Fingernägel würden mein zartes Fleisch durchbohren. Doch
ich werde mich wehren, nach ihnen treten und blitzschnell an das obere Ende
meines Bettes krabbeln, mich dann an die schwarze Wand hinter meinem Kopfkissen
pressen und schreien! Werde mit der Lampe, die neben mir auf dem Nachttisch
steht, werfen und immer wieder schreien! Aber auch die Glaskanne voll mit heißem
Tee werde ich ihnen direkt ins Gesicht werfen- platsch! -in der Hoffnung sie
verbrennen sich ihre hässlichen, narbigen Fratzen. Doch wird es etwas nützen? Denn
wenn die Kobolde etwas wollen, dann kriegen die das auch. Kobolde sind viel stärker als Menschen.“
Opa
Harry erzählte uns Enkelkindern immer die spannendsten Schauergeschichten,
wenn wir an düsteren, regnerischen Tagen im Herbst nicht auf den Spielplatz gehen
wollten. Schön war es, eingehüllt in einer warmen, flauschigen Decke auf dem
Boden vor dem knisternden Kamin sitzend den Worten von Opa Harry zu folgen. Oma
Ilse reichte uns dazu immer einen leckeren heißen Kakao und gesellte sich dann
dazu. Sie machte es sich in ihrem mintgrünen Ohrensessel gemütlich und legte ihre
müden, schweren Beine auf einen Hocker. Opa meinte immer, das sei gut für ihr
Herz. Anfangs hörte Oma der Geschichte noch zu, meistens schlief sie aber sehr
schnell ein.  Opa Harry hingegen saß in
seinem Schaukelstuhl und erzählte unermüdlich weiter. Er wippte beim Erzählen
vor und zurück, sodass die alten Holzdielen dabei knarrten. Dieses beständige Wippen
wirkte einschläfernd auf Oma.
„Kobolde müssen tagsüber hart arbeiten, bevor sie
nachts unter fremde Betten kriechen. Dadurch haben sie viele Muskeln. Und diese
brauchen Energie. Sie haben ständig Hunger. Wenn ein unachtsamer Schläfer seine
Füße über der Bettkante zu hängen hat, schnappen sie sofort zu. Sie kennen
keine Gnade. Wie die Tiere knabbern sie deine Knochen erst ab und spucken sie
danach wieder aus. Die Knochen werden gesammelt und als Baumaterial für ihre
Baracken benutzt. Natürlich hinterlassen sie keine Spuren. Sonst würden immer
weniger Menschen ihre Beine aus dem Bett hängen lassen. Und die Kobolde würden
alle verhungern.“

Ein Stück Holz knackte beim Verbrennen im Kamin. Eine düstere
Stimmung entstand im Wohnzimmer. Oma Ilse schnarchte mittlerweile vor sich hin.
Wir lauschten weiter Opas Stimme.
„Ich
halte meinen Atem an und will herausfinden, wo das unerbittliche, dumpfe
Klopfen herkommt. Der Kühlschrank ist es nicht. Der brummt ab und zu mal auf,
das kenne ich seit ich klein bin. In meiner Familie gab es schon immer uralte,
tief brummende Kühlschränke. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und lupfe die
Decke ein wenig. Mir ist mulmig. Meine Ohren werden immer größer. Wie ein Hase
im Feld richte ich sie auf und versuche den Schall aufzufangen. Dabei drehe ich
meinen Kopf ganz vorsichtig und mucksmäuschenstill in alle Richtungen. Ab und
zu muss man seine Angst überwinden und mutig durchs Leben gehen. Wie schon
Onkel Charlie immer meinte: „stelle dich am besten den Herausforderungen im
Leben. Ein Sieg macht dich stark. Ein Rückschlag regt zum Nachdenken an was
falsch lief.“ Nur irgendetwas lässt mich an dieser Aussage zweifeln. Mir gehen
alle möglichen Dinge durch den Kopf. Vielleicht sind es Einbrecher, die mein
Laptop klauen wollen? Oder Außerirdische, die auf die Erde geschickt wurden, um
mein Hirn auszulutschen? Ich will wissen, wer es wagt meine Nachtruhe zu
stören. Onkel Charlie, steh mir bei! Ich versuche Geräusche aus den
entlegensten Winkeln meines Zimmers zu erfassen. Mit meinem Gehör grase ich jede
noch so winzige Ecke ab. Aber Moment! Das Klopfen wird mal lauter und mal
leiser. Ich habe das Gefühl es kommt auf mich zu und plötzlich entfernt es sich
wieder. Spielen mir meine Sinne einen Streich? Sollte ich abends weniger
Baldriandragees schlucken? Oder ist der ganze Ausbildungsstress Ursache für
diese paranormalen Phänomene? Bilde ich mir das alles nur ein? Hilfe!“



Zwei

 „Noch mit Schlaf in
den Augen schaue ich auf die dunkle Wand vor mir. Ich lasse meinen Blick
schweifen, er kreist durch alle Ecken. Mein Zimmer erscheint mir noch dunkler
und gruseliger als je zuvor. Plötzlich, dort an der Wand, direkt über mir. Ah!
Zwei große, weiße, Augen. Sie leuchten hell und starren mich wahnhaft an. Ein
unangenehmer Schauer fährt mir über den Rücken. Ich kneife meine Augen ganz
fest zusammen und bleibe wie versteinert liegen. Jetzt nur nicht bewegen, denke
ich. Mein Herz rast. Meine Atmung wird immer schneller. Die bösartigen Augen
kommen näher, bewegen sich an der Wand entlang zu mir. Die beklemmende  Angst schnürt mir die Kehle zu. Ich springe
aus dem Bett, stehe mitten im Zimmer. Um mich herum nur Finsternis. Wo soll  ich hin? Ich drehe mich um, mein Rücken zeigt
schützend zu den fiesen Augen. Ich möchte nicht wissen, ob sie noch da sind
oder wohin sie sich bewegen. Ich bleibe einfach hier stehen und warte bis der
Spuk vorbei ist. Ich muss träumen, zwicke mir verzweifelt in den Arm- aua!  Zwicke heftiger- aua! Es ist kein Traum, ich
schreie. Hilfe! Mein Herz klopft so wild, dass es bald herausspringt. Der Raum wird
kühler. Die weißen Baumwollvorhänge flattern wie Geister am Fenster umher. Etwas
Kaltes ist auf meiner Schulter. Ich spüre einen eisigen Windzug, der sich
langsam zu einer Hand formt und mir dann spürbar den Rücken entlang fährt. Ich
zucke zusammen, habe Panik, traue mich nicht zu atmen. Ich presse meine Lippen aufeinander.
Meine Körperspannung wird immer unerträglicher. Am liebsten würde ich zur Tür
rennen, traue mich aber nicht. Der Weg erscheint mir aussichtslos, denn diese
böshaften Augen sind immer noch da. Sie sind jetzt an der Wand neben der Tür
und gieren nach mir. Zwei große, weiße Augen von Etwas, das mich verschlingen
möchte. Ein paar Zentimeter links von den Augen befindet sich der
Lichtschalter. Und daneben die Türklinke 
zum rettenden Nachbarraum. Die Augen verhindern meine Flucht. Sie quälen
mich. Dabei wäre es nur ein Klinkengriff zum rettenden Nebenraum.
Auf
einmal geht die Tür langsam auf. Sie knarrt. Mein Herz springt gleich aus der
Brust. Ich kneife meine Augen zusammen. Ah! Doch was ist das? Ich höre etwas Vertrautes.
Die kalte Hand auf meinem Rücken ist nicht mehr da. Ein leises, wohlklingendes
Schnurren erfüllt den Raum. Ich mache vorsichtig meine Augen auf. Es fällt mir
schwer im Dunkeln zu sehen. Meine Augen gewöhnen sich langsam an die
Dunkelheit. Ich bin überglücklich! Meine Katze Supalilli schmiegt ihren Körper
am Türrahmen entlang und schaut mich mit ihren braunen Kulleraugen fordernd an,
so als wolle sie sagen „kraule mich!“ Ich drehe mich im Kreis um meine
Körperachse, schaue in alle Richtungen, gehe in mich, höre leise hier und dort.
Nichts ist mehr zu sehen oder zu hören von den unheimlichen Dingen. Ein
angenehmes Gefühl überkommt mich. Mein Körper entspannt sich. Mein Herz bremst
ab auf ein normales Tempo. Supalilli wird jetzt erst einmal gut durchgekrault,
da sie meine Rettung ist. Wir legen uns beide ins Bett und kuscheln.  So ineinander mit Supalli zusammengekauert überkommt
mich ein Weinkrampf. Es sind Tränen der Erleichterung, welche unaufhaltsam über
mein Gesicht kullern und meine Haut benetzen. Nach ein paar Minuten schlafen
wir ein.“
Opa
Harry machte wie oft eine kleine Erzählpause. Er musste auf die Toilette.
Während er weg war schauten wir dabei zu, wie sich Omas Brustkorb hebte und
senkte. Sie schnarchte leise im Takt mit dem knisternden Feuer im Kamin.