Nahtod: Zwischen Erdloch und Bingotisch

Am Ende eines Lebens steht er da – der Tod: Manche wirft er ins Erdloch; andere holt er am Bingotisch. Frau K. hat sich entschieden: Kein Nahtod!

Interview zum Nahtod

Herr Milosz, Reporter der örtlichen Presse, sitzt auf einer braunen, geblümten Cordcouch aus den 20er Jahren, die Wände beklebt mit schrill gemusterter, vergilbter Tapete aus den 70ern. Sein Blick fällt auf den MuFuTi mit der zerkratzten Fliesenoberfläche und den selbst gehäkelten Spitzendeckchen. Das laute Ticken der Wanduhr erschlägt ihn mit gnadenloser Regelmäßigkeit. Eins wird ihm sofort klar: der Wohlstand ist dort nicht zu Hause. Draußen knarren die Dielen, mit der Leichtigkeit der Hochaltrigkeit betritt Frieda K. (95 Jahre aus B.) das Wohnzimmer. In ihren zitternden Händen hält sie das uralte Familienporzellan. Es riecht nach Kaffee und selbst gebackenen Haferflockenkeksen.

Was soll nach dem Tod von Frau K. passieren?

Bevor Herr Milosz etwas sagen kann beginnt Frau K. aufgeregt an zu plappern. „Ach, sie sind wohl der junge Mann, der mit mir über meine Recherchen sprechen möchte? Ich hab‘ hier schon mal was vorbereitet“, sagt sie und zieht aus dem Unterfach des MuFuTi einen Stapel Informationsbroschüren verschiedener Bestattungsunternehmen hervor. „Angenehm, Milosz mein Name“, begrüßt er sie mit tiefer, freundlicher Stimme. „Das Bestattungsunternehmen bei mir um die Ecke bietet alles, was ich mir wünsche, dennoch hapert es am Preis. Meine nette Nachbarin Frau Suhrbier brachte mich auf die Idee eine Einäscherung in Tschechien vornehmen zu lassen. Ihre Bekannte Olga behauptet es sei dort um Längen günstiger.“ – „Ach, sie möchten wohl keine Sargbestattung?“ – „Um Himmel‘s Willen“, schreit Frieda K. erschrocken auf, “ich will doch keine Wachsleiche werden“, und spuckt ihm dabei die Reste ihres Haferflockenkekses entgegen, „wissen sie denn nicht das Neueste? Normalerweise verfault der Körper durch die Luft- und Wasserdurchlässigkeit des Holzbodens. Die Bakterien können den Körper dann zersetzen. Da aber die Särge heutzutage in einem zu feuchten und luftdichten Klima eingelassen werden bildet das Fett unter der Haut eine Wachsschicht, die über hundert Jahre braucht, um zu verwesen. Und wer kann schon hundert Jahre die Grabmiete zahlen, geschweige denn die Grabpflege übernehmen?“

Welche Möglichkeiten für die letzte Ruhe gäbe es noch?

„Was gibt es denn sonst noch für Möglichkeiten für ihre letzte Ruhe?“ – „Eine weitere Möglichkeit wäre die Seebestattung, da kann man sich zerstreuen oder ins Wasser hinab lassen. Aber da ich Wasser noch nie leiden konnte und meine Angehörigen durchweg seekrank werden würden die Brechtüten das Budget sprengen.“

Herr Milosz hört ihr geduldig zu und blickt sich neugierig im Zimmer um. Ein Bilderrahmen sticht ihm besonders ins Auge. „Frau K., wie ich sehe war ihr Mann in der Normandie stationiert?“ – „Ja, dort ist er auch gleich gefallen. Gott hab ihn selig! Wobei mir einfällt, in Frankreich gibt es die Möglichkeit einer Ballonbestattung, also vom Winde verweht zu werden. Der Ballon, von dem die Asche ausgestreut wird, hat eine besondere Vorrichtung mit der die Asche der Luft übergeben wird. Um diese Dienstleistung in Anspruch zu nehmen müsste ich aber vorher beim Bingo ordentlich abräumen.“ Frieda K. sinkt stumm in sich zusammen und schaut traurig mit ihren großen, braunen Augen an die Decke. Nach einem kurzen Moment bedächtiger Stille sagt sie: „Dann wird mir wohl nur eine anonyme Billigentsorgung beim Discounter übrig bleiben. Und die Moral von der Geschicht‘- Sterben ist bezahlbar nicht.“ Eine große Träne kullert ihr über die faltige Wange.

Zwei Wochen später

Schon wieder sitzt her Milosz auf der braunen, geblümten Cordcouch und vor ihm steht immer noch der alte, zerkratzte MuFuTi. Haferflockenkrümel liegen auf dem Boden- immer noch an der gleichen Stelle. Dort, wo Frieda K. letztens gesessen hat.

Der Tod liegt im Detail

Frieda K. freut sich Herr Milosz wieder zu sehen und plappert sofort drauf los. Doch eines fehlt. Wo sind die Haferflockenkekse? „Herr Milosz, sie glauben gar nicht was mir damals noch passiert ist. Kaum waren sie aus der Tür heraus hab ich mir den Karl Moik angemacht. Gerade als ich mir einen Haferflockenkeks in den Mund gesteckt hatte durchfuhr es mich wie ein Blitz. Der Hansi Hinterseer hat eine neue Frisur. Vor lauter Entsetzen blieb mir der Keks im Hals stecken. Ich schnappte nach Luft und japste wie der kleine Pudel von Frau Suhrbier, wenn er wieder mal dabei war sich mit seiner Leine selbst zu strangulieren. Den Tod vor Augen hielt ich mich an meinem MuFuTi fest, dann sank ich erschöpft zu Boden. Ich sauste durch einen imaginären Tunnel und fand mich plötzlich außerhalb meines Körpers wieder. Just in diesem Moment betrat Frau Suhrbier, wissen sie, hat doch einen Schlüssel, betrat das Wohnzimmer und rief: „Frieda, hast‘ noch Kaffee? Die Olga ist zu Besuch.“ Sie konnte den Satz kaum zu Ende bringen, da fand sie mich schon röchelnd auf dem Boden liegen.

Rettung dank Erste-Hilfe-Kurs

Zu meinem Glück nahm die Suhrbier letzten Monat an einem Erste-Hilfe-Kurs im Wert von 16,90 Euro teil. Diesen gewann sie beim Bingo als Trostpreis – gesponsert von der Apotheke in ihrer Nachbarschaft. Sie hat auch richtig reagiert indem sie den Heimlich-Handgriff bei mir machte. Dies beobachtete ich von außen, wie gesagt,  mit einem Gefühl tiefer Zufriedenheit.“ – „Ach so? Wieso fühlten sie sich denn zufrieden?“ – „Ich denke, das liegt an den Rauschgift ähnlichen Substanzen, die bei schweren Belastungen durch die Blutbahn gehen und Schmerzen und Angst wegmachen. Wahrscheinlich versucht der Geist nur sich vor dem Horror eines unvorstellbaren Traumas zu schützen. Für die lebensrettende Sofortmaßnahme bin ich meiner Suhrbier sehr dankbar, denn ich muss mich schließlich noch um meine Beerdigung kümmern.“

Hinweis: Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Nadine, Claudia und Tobias im Rahmen des Sterbeseminars während der Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger. Vielen Dank!

 

 

 

 

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